Interview in der Bündner Woche vom 23.10.2024 mit dem Autor der St. Moritzer Metamorphosen:
Vom Arzt zum Maler
Warum wurde ein Engadiner Arzt Künstler? Dazu schrieb Adrian Stokar eine beeindruckende Biografie über Peter Robert Berry
Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Vorweg ein Kompliment für dieses schöne gewichtige Buch, das jeden Buchmenschen erfreut.
Adrian Stokar: Als ich beim Verlag Hier und Jetzt vorbeiging, um ein paar Exemplare abzuholen, ist mir tatsächlich vor allem das Gewicht des Buches aufgefallen. Zwei volle Papiersäcke zu tragen, ist nicht ohne. Aber herzlichen Dank für das Kompliment. Ich hoffe, das Buch vereint ideal Stil, Inhalt und Optik.
Aerni: … und ist auch reich an Materialien…
Stokar: Neben der Biografie zu Berry von mir und dem kunsthistorischen Essay von Veronika Rall gibt es auch eine Menge noch nicht veröffentlichte, dokumentarische Fotos und einen reichen Bildteil der Gemälde von Berry. Deshalb übrigens auch das Gewicht des Buches: wir haben gutes Papier genommen, damit die Abbildungen ansprechend daherkommen.
Aerni: Es ist dem Arzt und Maler Peter Robert Berry gewidmet, der von 1864 bis 1942 lebte. Ein reiches Leben. Wie muss man Ihre Vorgehensweise vorstellen, um dieses Leben dokumentieren zu können? Was waren die ersten Schritte?
Stokar: Wegen des literarischen Wanderführers zum Oberengadin, den ich geschrieben habe, ist der Enkel von Peter Robert Berry auf mich zugekommen. Wir kamen ins Gespräch. Berry sagte, er habe viel ungesichtetes Material im Archiv des Berry Museums, vielleicht könne ich damit etwas anfangen. Von Anfang an stand für mich der Gedanke im Zentrum, dieses Material zu verbinden zu einer doppelten Geschichte: jene von Peter Robert Berry vom Arzt zum Maler und jene von St. Moritz vom Bauerndorf zum Edelkurort. Wobei zu Letzterem gibt es schon viele Bücher, die Geschichte kann nicht neu geschrieben werden, aber einige Vertiefungen, Veranschaulichungen und Aperçus konnte ich dank des Archivs zu Tage fördern.
Aerni: Berry lebte und wirkte genau in der Zeit, als die Alpen das Reiseziel der Menschen aus den lärmigen Städten und des Belle Époques wurden, was seinem Beruf als Kurarzt entgegenkam, oder?
Stokar: Und wie. Das Oberengadin konzentrierte sich auf jene Gäste, bei denen die sogenannte Neurasthenie diagnostiziert wurde, also ein Nervenleiden. Neurasthenie könnte man als das Burn-out oder Fatigue der Jahrhundertwende von 1900 bezeichnen. Damals stand die Forschung noch in den Kinderschuhen. Vor allem in den Grossstädten litten viele Menschen an Überreizung und waren von der technischen und gesellschaftlichen Beschleunigung überfordert.
Aerni: Und die Alpen sollten also für Abhilfe sorgen?
Stokar: Ja, die erfolgversprechendste Therapie hiess: ab in die Alpen zur Erholung mit viel Ruhe, gesundem Essen und leichter körperlicher Ertüchtigung. Und das mindestens zwei Monate lang und unter ärztlicher Aufsicht. Bei einigen wurde das Programm mit einer Badekur ergänzt. Berry war einer der ersten Ärzte, die sich auf Neurasthenie spezialisierte.
Aerni: Könnte man die Zeit, in der Berry lebte und wirkte mit der unsrigen vergleichen, was Tendenzen und Trends angehen?
Stokar: Die Geschichte wiederholt sich bekanntlich nie. Jedoch gibt es bestimmte Themenlagen, die in gewandelten Formen durchaus wiederkehren. So wird auch die mentale Robustheit immer wieder von ähnlichen Problemen herausgefordert. Bei aller Differenz können drei Themenkomplexe erwähnt werden, die Anfang des 20. und Anfang des 21. Jahrhundert aufgetaucht sind.
Aerni: Bin gespannt.
Stokar: Erstens: Beschleunigung durch technische Erneuerungen. Hierzu drei Stichworte: Die Eisenbahn, die Energieerzeugung und die Telegrafie. Die Mobilität, die Arbeitsprozesse und der Informationsfluss sind gewaltig beschleunigt worden, wie das auch jetzt mit Robotik, KI und Internet der Fall ist. Zweitens: Die wirtschaftliche Verflechtung erreichte ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine enorme Dichte. In dieser Phase der Globalisierung stieg auch der Anteil der ausländischen Bevölkerung, wobei die meisten aus den Nachbarländern kamen.
Aerni: Und drittens?
Stokar: Die Sorge um die Natur. Dies betrifft sowohl die Gefährdung der äusseren Natur als auch die auf Rousseau referierende Pflege der inneren Natur des Menschen. Hier ist die Reformbewegung zu erwähnen, die in den Nuller-Jahren des 20. Jahrhunderts Fuss fasste.
Aerni: Sie schreiben, wie Berry sich von seinem Beruf der Malerei und der Natur zuwandte mit der Begründung: "Ihre Schönheit, ihre Ruhe, ihre Kraft, ja möglicherweise sogar ihr therapeutisches Potenzial...". Wie haben Sie es mit der Natur und der Bergwelt?
Stokar: Ich leide unter Höhenangst. Insofern habe ich den grössten Respekt vor steilen Berghängen, ich meide garstige Gipfelbesteigungen. Bei Bergtouren, die als T3 eingestuft werden, ist bei mir bald Schluss. Aber umso mehr staune ich die Bergwelt an, entzücke mich an Wolkengebilden, an Lichtspielen. Ich bin aber auch ein überzeugter Städter, der vielleicht – und das klingt jetzt sehr klischiert – das alpine Gegenprogramm deshalb sehr schätzt, um mal durchzulüften, durchzuatmen. Wegen der Höhenangst zwänge ich mich aber nicht so oft in die Wanderschuhe, sondern schwinge mich auf den Velosattel. Wobei: Was hat das noch mit Natur zu tun?
Aerni: Gute Frage aber mal so unter uns: Wie macht sich St. Moritz heute aus Ihrer Sicht?
Stokar: Eine schwierige Frage. Ich bin gespalten. Und vielleicht sind auch viele St. Moritzer gespalten. Hier die Natur und die Erholung, dort ein beinahe grossstädtisches Leben mit der nötigen Infrastruktur und allen gängigen internationalen Modemarken, wie überall. Die Möblierung und der Ausbau der Landschaft hat gerade in St. Moritz einen Grad erreicht, der die Sucht der Unterländer nach einem Naturerlebnis hintertreibt. Eine Wanderung auf der Corviglia kann kaum als schön bezeichnet werden. Überall Baustellen, Verkehr, Pistenbauten, verstellte Natur und die bange Frage: Gibt es eine Grenze? Man muss sich gewahr sein, in der Zeit um Weihnachten steigt die Bevölkerung um etwa das Achtfache an. Also müssen alle relevanten Einrichtungen und Dienstleistungen auch für 120'000 Menschen funktionstüchtig sein. Zudem gibt es eine Kluft zwischen der reichen Klientel, die gesucht und gefunden wird – das billigste Zimmer des Kulmhotels kostet an Weihnachten CHF 1500 –, und den vielen Arbeitskräften der Tourismusbranche, die froh sein können, wenn sie einen alltagstauglichen Lohn erhalten und eine bezahlbare Wohnung finden. Der Probleme sind viele, anderen Touristenorten geht es nicht besser. Aber eben: Es gibt wenig Schöneres, als der Blick von der Segantinihütte ins Hochtal mit den Seen oder von der Diavolezza Richtung Piz Bernina und Piz Palü. Oder Spazieren in den goldenen Wäldern im Herbst. Oder ein Buch zur Hand zu nehmen und auf einer windgeschützten Terrasse zu lesen und, und, und.
Aerni: Peter Robert Berry kam als Maler in Kontakt u. a. mit Hodler, Segantini und Giacometti. Waren sie befruchtend für seine Arbeit oder eher konkurrierend?
Stokar: Ich habe keine Unterlagen gefunden, die anzeigen würden, dass er seine berühmten Malerkollegen als Konkurrenz betrachtete. Er schätzte deren Urteile, Hinweise und Tipps und es spricht grosse Bewunderung aus den Zeilen, die die drei Herren, allen voran Segantini, betreffen.
Aerni: Für Ihre Recherchen tauchten Sie intensiv ein, in die Jahre des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Könnten wir aus dieser Epoche etwas mit- oder wieder herausnehmen, was uns heute guttäte?
Stokar: Ich halte mich an Berry. Er musste für sein Künstlerdasein hart kämpfen. Sowohl inhaltlich als auch wirtschaftlich. Manchmal ging es ihm nicht gut. Er hat sich aber immer wieder aufgerappelt. Vielleicht haben ihm – das klingt jetzt vielleicht sehr altbacken und abgedroschen – Bescheidenheit ohne Minderwertigkeit und Selbstbewusstsein ohne Dünkelhaftigkeit vor dem Absturz bewahrt. Denn Selbstüberschätzung und Egomanie führen häufig in Sackgassen. Nicht verschweigen darf man sein soziales Umfeld, vor allem seine Frau Maria Rocco.
Aerni: Wenn Sie ihre porträtierte Person Peter Robert Berry heute träfen, welche Frage würden Sie ihm stellen?
Stokar: Biografien erzählen ein Leben, wenn dieses Leben schon gelebt ist. Sie werden von subjektiven Blicken des Autors geprägt. Man neigt dazu, eine zusammenhängende Erzählung zu konstruieren, am besten noch logisch aufgebaut. Das reale Leben wird aber vorwärts gelebt und folgt nur in Bruchstücken einem logischen, kohärenten Plan. Also ganz nach Gantenbein-Art von Max Frisch würde ich fragen: Welche Entscheidungen hätten zu einer komplett anderen Biografie geführt? Und demzufolge vielleicht auch zu einer anderen Identität? Und hätten Sie, Herr Berry, diese andere Biografie ge- und erlebt haben wollen? Oder als Fiktion aufschreiben wollen? Denn eines soll hier noch erwähnt werden: Berry war nicht nur ein guter Maler, er war auch ein ausgezeichneter Schreiber.
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Infokasten
Das Buch: «St. Moritzer Metamorphosen – Der Arzt und Maler Peter Robert Berry 1864 – 1942» von Adrian Stokar, 2024, 260 Seiten ca. 50 Abbildungen, 978-3-03919-614-2
Adrian Stokar war Co-Verleger der Edition Epoca und ist heute freischaffend als Lektor und Autor tätig. Von ihm erschienen ist u. a. «Dem Süden verschwistert» Literarische Wanderungen im Oberengadin (Rotpunktverlag, 2013). Er lebt in Zürich. Veronika Rall promovierte an der Universität Zürich und ist heute Projektleiterin Kommunikation und Wissenschaft am Berry Museum St. Moritz.
(© Bündner Woche)