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Im Ungefähren fühlen wir uns unbehaglich

Aus dem Tagebuch von Walter Lutz:

»Ha, ich kann es nicht lassen. Sie mögen mir verzeihen, bitte. Jetzt mutiere ich noch zum Wutbürger, jetzt schimpfe ich wirklich auf ›die da oben‹. Aber auch auf uns, ›hier unten‹. Niemand scheint in besonderem Maße beunruhigt darüber zu sein, dass sich in den letzten zwanzig Jahren ein libertäres Technologie-Regime (Libertäres Regime? Klingt das nur oberflächlich nach Widerspruch?) etabliert hat, das in unser Leben eindringt und sich darin breitmacht. Dies Vergewaltigung zu nennen, ist vielleicht zu heftig, aber es geht in diese Richtung. Die neuen, von uns nicht gewählten Machthaber in den Tech-Firmen entziehen sich der gesellschaftlichen Verantwortung, die sie kraft ihrer Mächtigkeit wahrzunehmen hätten. Sie foutieren sich darum, sich irgendwelchen Regeln zu unterwerfen, außer sie sind von ihnen selbst diktiert worden. Was sagte der Apfeloberbauer, als er dem US-Geheimdienst nicht dabei helfen wollte, das Mobiltelefon eines Terroristen zu entschlüsseln? ›Wir schützen Ihre Daten‹. Meine? Pah. Gemeint sind meine (nicht possessiv gemeinten) Daten, die sein (possessiv gemeintes) Eigentum sind. Er schützt in erster Linie sich selbst. Der macht das nicht zu unserem Wohl, sondern zu seinem Profit. Sein Kollege vom Fratzenbuch nannte das: ›Wir teilen Daten.‹ Was soviel heißt, wir haben Deine Daten geklaut und Du wirst nicht am Gewinn partizipieren. Ätsch. Wenn er mit mir die Daten teilt, so soll er bitte schön mit mir auch seinen Gewinn teilen. Das wäre ein gerechtes Geschäft.

Ich finde hier eine fatale Ironie in der Geschichte (der Gang der Geschichte scheint mit Ironien voll gepflastert zu sein): Als ich noch studierte, kam ich mit vielen Gleichaltrigen oder etwas Älteren in Kontakt, die sich zu den Hippies zählten. Ich fand die alle immer etwas komisch, kümmerte mich aber nicht weiter darum. Viele Väter (gibt es auch Mütter?) der digitalen Revolution, die Pioniere der Firmen, die heute unsere Computer beherrschen, sagen, sie seien von dieser Hippie-Bewegung gestreift worden, die meisten als weichgespülte Nachzügler und Nachgänger. Ich meine jetzt nicht unbedingt den Aspekt der Selbstverwirklichung, die die Bewegung proklamiert hat und die damals ganz oben auf der Prioritätenliste stand. Selbstverwirklichung war gestern und ist nostalgischer Quatsch. So der so: Heutzutage optimiert man sich selbst und wer sich selbst optimiert, hat gewissermaßen die Selbstverwirklichung einer Quantifizierung unterzogen, sie ad absurdum geführt.

Den meisten Selbstverwirklichern, die ich damals kennen lernte, konnte ich zugutehalten, dass sie bestrebt waren, eine kulturelle Leistung zu erbringen, dass sie versucht haben, sich zu entwickeln, sich weiter zu bilden. Viele von ihnen haben wie ich viel gelesen. Einige wurden zu Intellektuellen. Bücherwände zeugen davon. Beispielsweise war mein Freund Daniel einer von den belesenen Hippie-Gestreiften. Da er sieben Jahre älter ist als ich, kam er noch voll in den Genuss der Bewegung und kostete die Phase voll aus. Leider beeindrucken heutzutage Bücherwände niemanden mehr, auch Kunst wird ersetzt durch das sündhaft teure Vintage-Velo, das man ihrerstatt an die Wand hängt. Der konventionelle Selbstverwirklicher (und mit ihm der Intellektuelle) hat abgedankt, ist abgelöst worden vom datenfixierten Selbstoptimierer. Wie soll Selbstverwirklichung auch gemessen werden? Anzahl Laufmeter an gelesenen Büchern multipliziert mit Anzahl Therapiesitzungen beim Psychoanalytiker? Und wer mehr als fünfzig Bücher aus der Suhrkamp-Wissenschaftsreihe vorweisen kann, darf das Produkt der Multiplikation noch potenzieren? Eben.

Der Lebenssinn des Optimierers reduziert sich auf das Äufnen überprüfbarer Resultate und Fähigkeiten. Zum Beispiel indem er das Ziel anpeilt, über zweitausend Netzfreunde in 130 Ländern zu haben oder den New-York-Marathon als ›Finisher‹ zu absolvieren. Vorzeigbare Leistung ist gefragt, kein empirisch nicht überprüfbares Geschwafel und geistiges Geschwurbel. Oder besser gesagt: das geistige Geschwurbel hat sich postmodernisiert und sich in ein Geschwurbel gewandelt, das von der ›Überwindung des inneren Schweinehundes‹ und vom ›Ausreizen der eigenen Grenzen‹ faselt. Und alle hören gebannt zu und erstarren vor Erfurcht. Folgerichtig ist der Selbstoptimierer körperfixiert. Er trainiert mit einem Gerät, das Daten zu seiner Leistungsfähigkeit sammelt, weil er nicht mehr fähig ist, selbst zu spüren, wann er müde oder wann er fit ist. Diese Daten werden auf den Computer geladen, damit sie der Optimierer einsehen kann. Und wenn der Optimierer die Daten auf der Cloud speichert, können sie auch andere anschauen. Das verstehen dann die Fritzen von der High-Tech-Branche unter Transparenz und dahinter hecheln die Fritzen von der Krankenkasse. Der Selbstoptimierer bietet alle seine Innereien auf der Schlachtplatte feil. Freiwillig.

Ich schweife wieder ab.

Ich wollte gar nicht darauf hinaus, gegen all diesen Schwachsinn könnte man sich mit Verweigerung wehren, die einem Akt der Aufklärung gleichkäme. Eigentlich beunruhigt mich etwas anderes noch viel mehr, nämlich die grundsätzlich antietatistische Haltung, die viele Blumenkinder und ihre Nachfolger eingenommen haben.

Daniel lud mich etliche Male zu sich nach Hause ein, genauer müsste ich sagen: zu ihnen nach Hause. Seine Hausgemeinschaft wohnte außerhalb des Ortes auf einem ausrangierten Bauernhof. Sie bildeten einen Sechs-Personen-Haushalt. Ich fühlte mich stets fehl am Platz. Etwas krud zusammengefasst, war ich, bevor ich das erste Mal dort war, der klischeehaften Überzeugung, dass sie alle gegen den autoritären und gewalttätigen Staat, gegen die Bullen, gegen die Bonzen, gegen den sogenannten militärisch-industriellen Komplex, gegen das Establishment, gegen Prüderie und gegen den Kapitalismus waren. Und für die freie Liebe, LSD, Bewusstseinserweiterung, Selbstverwirklichung, antiautoritäre Erziehung, Gewaltlosigkeit, Frieden, Antikapitalismus. Sie träumten sicherlich von einer Gegengesellschaft. Dieses Bild bestätigte sich nur ansatzweise, die genannten Stichworte fielen nur vereinzelt oder nur als Randbemerkungen. Eigentlich trat die Truppe sehr gesittet auf, Drogenräusche und munteres Rumgebumse fanden nicht statt. Wir diskutierten viel, das heißt – Sie wissen schon – die anderen diskutierten viel. Die Gespräche drehten sich vorwiegend um Politik und die Schule, drei der sechs Bewohner waren Lehrer. Wegen meiner Diplomarbeit wurde ich als Fachmann für Abrüstung und des Kalten Kriegs angesehen. In dieser Funktion gelang es mir nicht schlecht, ihnen einen Spiegel ihrer antiamerikanisch und prosowjetisch verzerrten Sichtweise vorzuhalten. Da ich selbst weder proamerikanisch noch antisowjetisch getaktet war und in meiner Argumentation möglichst ideologiefrei blieb, gingen sie auf meine Vorbehalte ein. Ich war erleichtert, haben sie nicht den gängigen Einwand vorgebracht, es gäbe keine vorurteilsfreie Wissenschaft. Was ich aber sagen kann, ist, die Mehrheit der Gruppe war äußerst staatskritisch gesinnt. Um dieses in ihren Augen kapitalistische System von innen her zu ändern, sind sie in seinen Dienst getreten.

Bleiben wir in jenen Jahren und wechseln den Schauplatz: wir gehen nach Kalifornien. Aus dem Dunstkreis der dortigen Hippie-Bewegung zogen ein paar kluge, geschäftstüchtige Schlauberger den antiautoritären Rauch ein, inhalierten ihn aber nicht, sondern bauten mit Hilfe technischer Erfindungen und kapitalistisch ausgefuchst eine privatwirtschaftlich stramm organisierte Alternativmacht auf und strichen den Solidaritätsgedanken und all das kitschige und sozialromantische Beigemüse aus dem Programm beziehungsweise ersetzten diese mit dem doppelt unterstrichenen Wort Profit. Häufig nebelten sich die Techno-Kanonen mit dem süssen Fluidum der sanften Revolution ein. Die Firmen wurden eigens in deodorierten Garagen gegründet, um den Ad-hoc-Charakter, das Subkulturelle, das Improvisierte, den Erfinder- und Tüftlergeist zu demonstrieren. Rein zufällig war immer jemand mit Kamera dabei. Das Legendenhafte, das diesem scheinheiligen Rebellentum innewohnt, wurde von Beginn weg bewusst inszeniert, ein Kommunikationsexperte hatte nämlich gesagt, es brauche einen Gründungsmythos. Und diese monströs gewordene Gegenmacht, die einer Ellbogenkultur frönt, ist zu einer Gegenöffentlichkeit mutiert und schickt sich an, das staatliche Monopol zu untergraben. Die ursprünglichen Hippies, die zusammen mit Alt-68ern den Gang durch die Institutionen angetreten sind, werden zu Kritikern ihrer einstigen Kollegen der Tech-Branche und zu Verteidigern des Staates. Vielleicht gibt es jüngst vereinzelte, leise Stimmen auch im Innern des Silicon Valleys, die Bedenken gegen diese Entwicklung anmelden. Aber.«

 

Walters Tochter Flavia denkt sich ihre Sachen dazu:

Sie blätterte nochmals im Tagebuch herum. Walters Gedanken zur Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung überzeugten sie nicht. Er erkannte zwar Symptome, kam zu einem Befund, er war aber unfähig, daraus eine folgerichtige Diagnose abzuleiten. Walter besaß die unerschütterliche Gabe, jeweils haarscharf am Kern einer Sache vorbeizudenken. Gewiss, Selbstverwirklichung hat mit Erkenntnis zu tun, vielleicht sogar mit Bildung, aber zu Flavias Jugendzeit waren die Typen, die sich selbst verwirklichen wollten, vor allem berühmt dafür, auf einem Egotrip zu surfen. Das waren abgefahrene Spezies einer anderen Welt. Bewusstseinserweiternde Mittel und sexuelle Erfüllung waren die Grundelemente des Daseins. Man vögelte wohlgemut und zugeknallt durch die Kommune. »Okay«, sagte sie zu sich selbst, »ist nicht gerade nuanciert. Aber der schöne Daniel beispielsweise hatte diese Lebensphase extensiv ausgekostet. Ich will ja nicht wissen, wie viele der auf die Matte geschmissen hatte.« Sie erschrak, als sie hörte, dass sie laut mit sich selbst redete. Und was ist schon wieder ein Intellektueller? Eine Leseratte mit einer Ehrfurcht einflössenden Bücherwand? Quatsch, mit solchen Äußerlichkeiten war dem nicht beizukommen. Intellektuell war für sie jemand, der geistreich und mit Esprit gegen den Strich bürsten konnte. Belesen und gebildet zu sein war sachdienlich, erklärt es aber nicht hinreichend. Ein Akademiker ist nicht per se intellektuell, sie kannte ja doch ein paar davon, dachte sie.

Auch in seiner Abkanzelung des Selbstoptimieres brachte er es nicht auf den Punkt. Oberstes Ziel des Vollblut-Optimierers ist die stromlinienförmige Einpassung seiner selbst in die akribisch ausgemessene und durchökonomisierte Welt. Punkt. So sah sie das. Auch von der gängigen Interpretation, das alles sei Ausdruck eines übersteigerten Individualismus, hielt sie nichts. Der Optimierer will den Anforderungen genügen. Erreicht er die reklamierten Benchmarks, hat er seine Aufgabe erfüllt. Ausreißer aus dieser Norm waren Sonderfälle und bestätigten die Regel. »Ja, Walter«, stieß Flavia grummelnd hervor, als sie die Stelle wieder las, »dazu braucht es tatsächlich eine gehörige Portion Datenfetischismus. Aber nicht, weil wir scharf auf Daten sind, nein, sondern weil wir uns mit unvermessten oder unvermessbaren Verhältnissen schwertun. Wir lechzen nach Klarheit. Die eigene Position soll präzise verortet werden. Weil: Im Ungefähren fühlen wir uns unbehaglich. Zahlen scheinen Eindeutigkeiten am verlässlichsten wiederzugeben.« Sie malte sich aus, der Nachrichtensprecher würde sagen, heute sei der Dow Jones so über den Daumen gepeilt um annäherungsweise zwei, möglicherweise drei Prozent gestiegen, vielleicht aber auch gesunken. Oder: Heute Nachmittag erreichen die Temperaturen grob geschätzt um die fünfzehn oder dreißig Grad. Ja was jetzt? Jeans oder Hotpants? Walter hatte schon Recht, wenn er moniert, unser Körpergefühl komme uns abhanden. Es geht nicht nur um den Beweis der gestählten Physis, der einem beschieden wird, wenn man den New-York-Marathon beendet hat. Nachweise zur geistigen Fitness und Agilität sind ebenso erwünscht. Deshalb wird nach verifizierbaren Kompetenzen gefragt. In der mentalen Kategorie werden aber auch solche Dinge wie kognitives oder neurales Enhancement, Brainhacking oder Achtsamkeitstraining, Meditation und Yoga gern gesehen. Flavia stutzte kurz, sie passte nicht ins Profil. Außer beim Yoga musste sie überall passen. Schwein gehabt. Dann gab es Eigenarten, die das schöne Schema störten. Eigenwille, Selbstironie und Witz gehörten dazu. Der Selbstoptimierer erachtet seine Vermessung als Teil des Spiels. Er regt sich nicht sonderlich über das humorlose Gebaren des Silicon Valleys auf. Datenabsaugen, Tracking und Targeting findet er okay. Ist doch angenehm, wenn man nur die zweckmäßigen Produkte angeboten bekommt. Man geht in der Buchhandlung ja auch in jene Abteilung, wo die Bücher stehen, die einen interessieren könnten. Flavia war gespalten. Vor allem Leichtsinn und Blindheit ärgerten sie und weniger die Hinterhältigkeiten der Handlanger. Denen kann man Grenzen setzen. Oder hatte sie etwas übersehen?

Nun ja, Walters Aversionen gegen das Netz waren ihr bekannt. Das Silicon-Valley-Bashing war gerade in Mode gekommen und Walter machte mit. Aber: Das Sprichwort mit dem Kind und dem Bad drängte sich auf.