Schreibtisch

Stokar an der Lesung

Lesung in Schaffhausen:

Autor Stokar in seinem Element.

Berghaus

passé

Lesung im Berghaus am Splügenpass aus
Einstürzende Gewissheiten
Samstag, 12. August 2017
Es war schön und gut. Herzlichen Dank für einen wunderbaren Ossobucco.

«Einer der stärksten Debütromane des Herbstes.»

Angelo Algieri auf Twitter, freier Journalist, Berlin

«Blocher spielt mit», schreibt Irene Widmer vom Schweizer Feuilletondienst.

Und: «Ein Buch für Leute, die sich für Wirtschaft interessieren.» Der ganze Artikel ist hier nachzulesen www.feuilletondienst.ch

Geschickt gemacht!

«Der Leser des Romans jedenfalls kann erst nach dem Lesen des letzten Kapitels die ganze Tragweite des Autounfalls ermessen. Geschickt gemacht!»
mona lisa bloggt

Salisroom

passé

Lauschiger und sympathischer Abend beim Salis Verlag. Herzlichen Dank.

Presse

«Ein klarer Fall von Dramatik-Entlehnung... ein weiteres literarisches Delikt: Koketterie mit Prominenten.»

Martin Ebel im Tages-Anzeiger

Steiner & Schmid: Sokratisches und Rumsfeldisches

Steiner: Hier Dein Bier.

Schmid: Danke. Du distanzierst Dich?

Steiner: Physisch. Zwei Meter. Zum Glück gibt’s Parkbänke.

Schmid: Staatsgläubig?

Steiner: Vernünftig.

Schmid: Ach ja? Parkbänke können auch kontaminiert sein.

Steiner: Die Blechdose und der Türgriff, den Du vorhin gedrückt hast, auch.

Schmid: Ich weiß. Das Leben ist mühsamer geworden.

Steiner: Aber eigentlich wissen wir noch nicht so viel.

Schmid: Stimmt. Wir wissen nichts. Niemand. Wir sind in eine Ära der Fragen eingetreten.

Steiner: Dein Wort in meinem Ohr.

Schmid: Hä?

Steiner: Nun ja, Du hast es sonst eher mit den Antworten…

Schmid: Also, dann frag ich Dich mal was.

Steiner: Bitteschön.

Schmid: Glaubst Du dem weichgespülten Sozialdemokraten des Bundesamts für Gesundheit?

Steiner: Schon auf Entzug?

Schmid: Wieso?

Steiner: Das war keine Frage.

Schmid: Wieso nicht?

Steiner: Weil Dir meine Antwort egal ist. Wenn Du »weichgespülter Sozialdemokrat« sagst, weiß ich schon jetzt, dass Du ihm nicht glaubst. Wenn ich »ja« sage, sagst Du »ich nicht« und setzt zu einem Exkurs an, wenn ich »nein« sage, sagst Du »ich auch nicht« und setzt zum selben Exkurs an.

Schmid: Müssen wir uns jetzt bei einem Paartherapeuten anmelden? 

Steiner: Auch das ist keine richtige Frage, aber ich antworte dennoch: Nein, keine Sorge.

Schmid: Halt! Schnitt. Wir gehen zurück. 

Steiner: Okay, wie Du willst.

Schmid: Glaubst Du dem Vorsteher des Gesundheitsamts?

Steiner: Ja, ich vertraue ihm.

Schmid: Ich habe gefragt, ob Du ihm glaubst.

Steiner: Ich weiß. Die Lage ist paradox. Er vermittelt das Gefühl, dass er versteht, wovon er spricht, obwohl er nicht weiß und eigentlich nicht verstehen kann, was gerade abläuft. Weil niemand es verstehen kann, nicht einmal die Experten. Den Stillstand zu verordnen, halte ich in einer solchen Situation für gewagt, aber richtig. Deshalb vertraue ich ihm.

Schmid: Und was ist paradox daran?

Steiner: In normalen Zeiten vertraue ich dem Wissen, jetzt jedoch dem Bewusst-Sein über das Nicht-Wissen des Nicht-Wissens.

Schmid: Was faselst Du von einem Bewusstsein über das Nicht-Wissen des Nicht-Wissens.

Steiner: Also. Es gibt ein Nicht-Wissen. 

Schmid: Schon gut, ich weiß.

Steiner: Nein, warte. Ich geb’ Dir ein Beispiel: Stell Dir Obama im Jahre 2011 vor. Ein paar CIA-Leute sprechen bei ihm vor und sagen, in einer Villa in Abbottabad sitzt mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent Osama bin Laden. Es bestünde eine gute Möglichkeit, ihn zu eliminieren. Obama denkt nach und stellt folgende Überlegungen an: »Wenn der CIA 80 Prozent sagt, dann rechne ich mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit. Halbe-halbe. Ich habe zwei Möglichkeiten, mit diesem Nicht-Wissen umzugehen. Entweder ich wandle es um in Wissen. Dafür muss ich die Aktion durchziehen. Hinterher weiß ich, ob er da war oder nicht. Das Nicht-Wissen wird also zu Wissen. Oder ich blase die Aktion ab. Ich werde nie erfahren, ob er da war. Das Nicht-Wissen bleibt ein Nicht-Wissen.« Einverstanden?

Schmid: Mach’ weiter.

Steiner: Obama entscheidet: »Ich will es wissen, also gebe ich den Einsatzbefehl.« Wenn er die Aktion nicht durchführt, wird er es nie gewusst haben werden.

Schmid: Hm.

Steiner: Du zweifelst?

Schmid: Ich find’, glaub’ ich, das Beispiel blöd. Aber meinetwegen.

Steiner: Jetzt ist das Nicht-Wissen radikal, eben ein Nicht-Wissen über das Nicht-Wissen. Wir können uns wie auch immer entscheiden, unmittelbar nachher wissen wir dennoch nicht viel mehr. Das Wissen verwandelt sich nur sehr mühsam und sehr langsam in ein Etwas-weniger-Nicht-Wissen.

Schmid: Einverstanden.

Steiner: Der Gesundheitsminister ist diesem Nicht-Wissen intellektuell gewachsen. Mehr als andere in diesem Gremium.

Schmid: Woraus schließt Du das?

Steiner: Indem er sagt, dass er wisse, dass er nicht wisse. Er ist ehrlich. 

Schmid: Sokrates. 

Steiner: Wenn Du meinst, aber so hoch hänge ich ihn auch wieder nicht. 

Schmid: Die anderen sagen auch, dass sie nicht wissen, was läuft.

Steiner: Ein paar von ihnen schon, aber sie sind nicht aufrichtig. Sie gehen in Deckung. Man konnte lesen, dass es in der Regierung welche gibt, quasi Coronaskeptiker, die den Wissenschaftlern nicht trauen.

Schmid: Wissenschaftsleugner.

Steiner: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Sie haben sich von der Krankheit befallen lassen, grundsätzlich jenen Wissenschaftlern zu misstrauen, die nicht ihre Meinung unterstützen. Aber sie sind vermutlich auch intellektuell nicht auf der Höhe des Problems. Sie denken mittels Raster, was zwischen den Linien durchfällt, sehen sie nicht, existiert also auch nicht. Es gibt Dinge, von denen sie nicht wissen, dass sie es nicht wissen, und sie sind sich dieser Situation nicht bewusst oder pfeifen drauf.

Schmid: Rumsfeld.

Steiner: Aber sie meinen genau zu wissen, was geschieht. Sie sind Ideologen. Das ist der Unterschied. Alles, was der Gesundheitsminister und die meisten Wissenschaftler wissen, ist, dass die Situation gefährlich sein könnte. Aber sie sind sich bewusst, dass auch sie dunkle Stellen in ihrem Wahrnehmungsraster haben, auch sie sehen nicht alles. Alle haben eine Brille auf. Wir leben in einer Epoche des Konjunktivs. Deshalb fahren sie das öffentliche Leben herunter. Viel mehr zu tun, weiß man zu diesem Zeitpunkt nicht. Niemand. Punkt.

Schmid: Für konjunktive Zeiten etwas apodiktisch, mein Lieber.

Steiner: Dein Wort in meinem Ohr.

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War & Tourist Menu

Im Ungefähren fühlen wir uns unbehaglich

Aus dem Tagebuch von Walter Lutz:

»Ha, ich kann es nicht lassen. Sie mögen mir verzeihen, bitte. Jetzt mutiere ich noch zum Wutbürger, jetzt schimpfe ich wirklich auf ›die da oben‹. Aber auch auf uns, ›hier unten‹. Niemand scheint in besonderem Maße beunruhigt darüber zu sein, dass sich in den letzten zwanzig Jahren ein libertäres Technologie-Regime (Libertäres Regime? Klingt das nur oberflächlich nach Widerspruch?) etabliert hat, das in unser Leben eindringt und sich darin breitmacht. Dies Vergewaltigung zu nennen, ist vielleicht zu heftig, aber es geht in diese Richtung. Die neuen, von uns nicht gewählten Machthaber in den Tech-Firmen entziehen sich der gesellschaftlichen Verantwortung, die sie kraft ihrer Mächtigkeit wahrzunehmen hätten. Sie foutieren sich darum, sich irgendwelchen Regeln zu unterwerfen, außer sie sind von ihnen selbst diktiert worden. Was sagte der Apfeloberbauer, als er dem US-Geheimdienst nicht dabei helfen wollte, das Mobiltelefon eines Terroristen zu entschlüsseln? ›Wir schützen Ihre Daten‹. Meine? Pah. Gemeint sind meine (nicht possessiv gemeinten) Daten, die sein (possessiv gemeintes) Eigentum sind. Er schützt in erster Linie sich selbst. Der macht das nicht zu unserem Wohl, sondern zu seinem Profit. Sein Kollege vom Fratzenbuch nannte das: ›Wir teilen Daten.‹ Was soviel heißt, wir haben Deine Daten geklaut und Du wirst nicht am Gewinn partizipieren. Ätsch. Wenn er mit mir die Daten teilt, so soll er bitte schön mit mir auch seinen Gewinn teilen. Das wäre ein gerechtes Geschäft.

Ich finde hier eine fatale Ironie in der Geschichte (der Gang der Geschichte scheint mit Ironien voll gepflastert zu sein): Als ich noch studierte, kam ich mit vielen Gleichaltrigen oder etwas Älteren in Kontakt, die sich zu den Hippies zählten. Ich fand die alle immer etwas komisch, kümmerte mich aber nicht weiter darum. Viele Väter (gibt es auch Mütter?) der digitalen Revolution, die Pioniere der Firmen, die heute unsere Computer beherrschen, sagen, sie seien von dieser Hippie-Bewegung gestreift worden, die meisten als weichgespülte Nachzügler und Nachgänger. Ich meine jetzt nicht unbedingt den Aspekt der Selbstverwirklichung, die die Bewegung proklamiert hat und die damals ganz oben auf der Prioritätenliste stand. Selbstverwirklichung war gestern und ist nostalgischer Quatsch. So der so: Heutzutage optimiert man sich selbst und wer sich selbst optimiert, hat gewissermaßen die Selbstverwirklichung einer Quantifizierung unterzogen, sie ad absurdum geführt.

Den meisten Selbstverwirklichern, die ich damals kennen lernte, konnte ich zugutehalten, dass sie bestrebt waren, eine kulturelle Leistung zu erbringen, dass sie versucht haben, sich zu entwickeln, sich weiter zu bilden. Viele von ihnen haben wie ich viel gelesen. Einige wurden zu Intellektuellen. Bücherwände zeugen davon. Beispielsweise war mein Freund Daniel einer von den belesenen Hippie-Gestreiften. Da er sieben Jahre älter ist als ich, kam er noch voll in den Genuss der Bewegung und kostete die Phase voll aus. Leider beeindrucken heutzutage Bücherwände niemanden mehr, auch Kunst wird ersetzt durch das sündhaft teure Vintage-Velo, das man ihrerstatt an die Wand hängt. Der konventionelle Selbstverwirklicher (und mit ihm der Intellektuelle) hat abgedankt, ist abgelöst worden vom datenfixierten Selbstoptimierer. Wie soll Selbstverwirklichung auch gemessen werden? Anzahl Laufmeter an gelesenen Büchern multipliziert mit Anzahl Therapiesitzungen beim Psychoanalytiker? Und wer mehr als fünfzig Bücher aus der Suhrkamp-Wissenschaftsreihe vorweisen kann, darf das Produkt der Multiplikation noch potenzieren? Eben.

Der Lebenssinn des Optimierers reduziert sich auf das Äufnen überprüfbarer Resultate und Fähigkeiten. Zum Beispiel indem er das Ziel anpeilt, über zweitausend Netzfreunde in 130 Ländern zu haben oder den New-York-Marathon als ›Finisher‹ zu absolvieren. Vorzeigbare Leistung ist gefragt, kein empirisch nicht überprüfbares Geschwafel und geistiges Geschwurbel. Oder besser gesagt: das geistige Geschwurbel hat sich postmodernisiert und sich in ein Geschwurbel gewandelt, das von der ›Überwindung des inneren Schweinehundes‹ und vom ›Ausreizen der eigenen Grenzen‹ faselt. Und alle hören gebannt zu und erstarren vor Erfurcht. Folgerichtig ist der Selbstoptimierer körperfixiert. Er trainiert mit einem Gerät, das Daten zu seiner Leistungsfähigkeit sammelt, weil er nicht mehr fähig ist, selbst zu spüren, wann er müde oder wann er fit ist. Diese Daten werden auf den Computer geladen, damit sie der Optimierer einsehen kann. Und wenn der Optimierer die Daten auf der Cloud speichert, können sie auch andere anschauen. Das verstehen dann die Fritzen von der High-Tech-Branche unter Transparenz und dahinter hecheln die Fritzen von der Krankenkasse. Der Selbstoptimierer bietet alle seine Innereien auf der Schlachtplatte feil. Freiwillig.

Ich schweife wieder ab.

Ich wollte gar nicht darauf hinaus, gegen all diesen Schwachsinn könnte man sich mit Verweigerung wehren, die einem Akt der Aufklärung gleichkäme. Eigentlich beunruhigt mich etwas anderes noch viel mehr, nämlich die grundsätzlich antietatistische Haltung, die viele Blumenkinder und ihre Nachfolger eingenommen haben.

Daniel lud mich etliche Male zu sich nach Hause ein, genauer müsste ich sagen: zu ihnen nach Hause. Seine Hausgemeinschaft wohnte außerhalb des Ortes auf einem ausrangierten Bauernhof. Sie bildeten einen Sechs-Personen-Haushalt. Ich fühlte mich stets fehl am Platz. Etwas krud zusammengefasst, war ich, bevor ich das erste Mal dort war, der klischeehaften Überzeugung, dass sie alle gegen den autoritären und gewalttätigen Staat, gegen die Bullen, gegen die Bonzen, gegen den sogenannten militärisch-industriellen Komplex, gegen das Establishment, gegen Prüderie und gegen den Kapitalismus waren. Und für die freie Liebe, LSD, Bewusstseinserweiterung, Selbstverwirklichung, antiautoritäre Erziehung, Gewaltlosigkeit, Frieden, Antikapitalismus. Sie träumten sicherlich von einer Gegengesellschaft. Dieses Bild bestätigte sich nur ansatzweise, die genannten Stichworte fielen nur vereinzelt oder nur als Randbemerkungen. Eigentlich trat die Truppe sehr gesittet auf, Drogenräusche und munteres Rumgebumse fanden nicht statt. Wir diskutierten viel, das heißt – Sie wissen schon – die anderen diskutierten viel. Die Gespräche drehten sich vorwiegend um Politik und die Schule, drei der sechs Bewohner waren Lehrer. Wegen meiner Diplomarbeit wurde ich als Fachmann für Abrüstung und des Kalten Kriegs angesehen. In dieser Funktion gelang es mir nicht schlecht, ihnen einen Spiegel ihrer antiamerikanisch und prosowjetisch verzerrten Sichtweise vorzuhalten. Da ich selbst weder proamerikanisch noch antisowjetisch getaktet war und in meiner Argumentation möglichst ideologiefrei blieb, gingen sie auf meine Vorbehalte ein. Ich war erleichtert, haben sie nicht den gängigen Einwand vorgebracht, es gäbe keine vorurteilsfreie Wissenschaft. Was ich aber sagen kann, ist, die Mehrheit der Gruppe war äußerst staatskritisch gesinnt. Um dieses in ihren Augen kapitalistische System von innen her zu ändern, sind sie in seinen Dienst getreten.

Bleiben wir in jenen Jahren und wechseln den Schauplatz: wir gehen nach Kalifornien. Aus dem Dunstkreis der dortigen Hippie-Bewegung zogen ein paar kluge, geschäftstüchtige Schlauberger den antiautoritären Rauch ein, inhalierten ihn aber nicht, sondern bauten mit Hilfe technischer Erfindungen und kapitalistisch ausgefuchst eine privatwirtschaftlich stramm organisierte Alternativmacht auf und strichen den Solidaritätsgedanken und all das kitschige und sozialromantische Beigemüse aus dem Programm beziehungsweise ersetzten diese mit dem doppelt unterstrichenen Wort Profit. Häufig nebelten sich die Techno-Kanonen mit dem süssen Fluidum der sanften Revolution ein. Die Firmen wurden eigens in deodorierten Garagen gegründet, um den Ad-hoc-Charakter, das Subkulturelle, das Improvisierte, den Erfinder- und Tüftlergeist zu demonstrieren. Rein zufällig war immer jemand mit Kamera dabei. Das Legendenhafte, das diesem scheinheiligen Rebellentum innewohnt, wurde von Beginn weg bewusst inszeniert, ein Kommunikationsexperte hatte nämlich gesagt, es brauche einen Gründungsmythos. Und diese monströs gewordene Gegenmacht, die einer Ellbogenkultur frönt, ist zu einer Gegenöffentlichkeit mutiert und schickt sich an, das staatliche Monopol zu untergraben. Die ursprünglichen Hippies, die zusammen mit Alt-68ern den Gang durch die Institutionen angetreten sind, werden zu Kritikern ihrer einstigen Kollegen der Tech-Branche und zu Verteidigern des Staates. Vielleicht gibt es jüngst vereinzelte, leise Stimmen auch im Innern des Silicon Valleys, die Bedenken gegen diese Entwicklung anmelden. Aber.«

 

Walters Tochter Flavia denkt sich ihre Sachen dazu:

Sie blätterte nochmals im Tagebuch herum. Walters Gedanken zur Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung überzeugten sie nicht. Er erkannte zwar Symptome, kam zu einem Befund, er war aber unfähig, daraus eine folgerichtige Diagnose abzuleiten. Walter besaß die unerschütterliche Gabe, jeweils haarscharf am Kern einer Sache vorbeizudenken. Gewiss, Selbstverwirklichung hat mit Erkenntnis zu tun, vielleicht sogar mit Bildung, aber zu Flavias Jugendzeit waren die Typen, die sich selbst verwirklichen wollten, vor allem berühmt dafür, auf einem Egotrip zu surfen. Das waren abgefahrene Spezies einer anderen Welt. Bewusstseinserweiternde Mittel und sexuelle Erfüllung waren die Grundelemente des Daseins. Man vögelte wohlgemut und zugeknallt durch die Kommune. »Okay«, sagte sie zu sich selbst, »ist nicht gerade nuanciert. Aber der schöne Daniel beispielsweise hatte diese Lebensphase extensiv ausgekostet. Ich will ja nicht wissen, wie viele der auf die Matte geschmissen hatte.« Sie erschrak, als sie hörte, dass sie laut mit sich selbst redete. Und was ist schon wieder ein Intellektueller? Eine Leseratte mit einer Ehrfurcht einflössenden Bücherwand? Quatsch, mit solchen Äußerlichkeiten war dem nicht beizukommen. Intellektuell war für sie jemand, der geistreich und mit Esprit gegen den Strich bürsten konnte. Belesen und gebildet zu sein war sachdienlich, erklärt es aber nicht hinreichend. Ein Akademiker ist nicht per se intellektuell, sie kannte ja doch ein paar davon, dachte sie.

Auch in seiner Abkanzelung des Selbstoptimieres brachte er es nicht auf den Punkt. Oberstes Ziel des Vollblut-Optimierers ist die stromlinienförmige Einpassung seiner selbst in die akribisch ausgemessene und durchökonomisierte Welt. Punkt. So sah sie das. Auch von der gängigen Interpretation, das alles sei Ausdruck eines übersteigerten Individualismus, hielt sie nichts. Der Optimierer will den Anforderungen genügen. Erreicht er die reklamierten Benchmarks, hat er seine Aufgabe erfüllt. Ausreißer aus dieser Norm waren Sonderfälle und bestätigten die Regel. »Ja, Walter«, stieß Flavia grummelnd hervor, als sie die Stelle wieder las, »dazu braucht es tatsächlich eine gehörige Portion Datenfetischismus. Aber nicht, weil wir scharf auf Daten sind, nein, sondern weil wir uns mit unvermessten oder unvermessbaren Verhältnissen schwertun. Wir lechzen nach Klarheit. Die eigene Position soll präzise verortet werden. Weil: Im Ungefähren fühlen wir uns unbehaglich. Zahlen scheinen Eindeutigkeiten am verlässlichsten wiederzugeben.« Sie malte sich aus, der Nachrichtensprecher würde sagen, heute sei der Dow Jones so über den Daumen gepeilt um annäherungsweise zwei, möglicherweise drei Prozent gestiegen, vielleicht aber auch gesunken. Oder: Heute Nachmittag erreichen die Temperaturen grob geschätzt um die fünfzehn oder dreißig Grad. Ja was jetzt? Jeans oder Hotpants? Walter hatte schon Recht, wenn er moniert, unser Körpergefühl komme uns abhanden. Es geht nicht nur um den Beweis der gestählten Physis, der einem beschieden wird, wenn man den New-York-Marathon beendet hat. Nachweise zur geistigen Fitness und Agilität sind ebenso erwünscht. Deshalb wird nach verifizierbaren Kompetenzen gefragt. In der mentalen Kategorie werden aber auch solche Dinge wie kognitives oder neurales Enhancement, Brainhacking oder Achtsamkeitstraining, Meditation und Yoga gern gesehen. Flavia stutzte kurz, sie passte nicht ins Profil. Außer beim Yoga musste sie überall passen. Schwein gehabt. Dann gab es Eigenarten, die das schöne Schema störten. Eigenwille, Selbstironie und Witz gehörten dazu. Der Selbstoptimierer erachtet seine Vermessung als Teil des Spiels. Er regt sich nicht sonderlich über das humorlose Gebaren des Silicon Valleys auf. Datenabsaugen, Tracking und Targeting findet er okay. Ist doch angenehm, wenn man nur die zweckmäßigen Produkte angeboten bekommt. Man geht in der Buchhandlung ja auch in jene Abteilung, wo die Bücher stehen, die einen interessieren könnten. Flavia war gespalten. Vor allem Leichtsinn und Blindheit ärgerten sie und weniger die Hinterhältigkeiten der Handlanger. Denen kann man Grenzen setzen. Oder hatte sie etwas übersehen?

Nun ja, Walters Aversionen gegen das Netz waren ihr bekannt. Das Silicon-Valley-Bashing war gerade in Mode gekommen und Walter machte mit. Aber: Das Sprichwort mit dem Kind und dem Bad drängte sich auf.

Kreuzfahrtschiff in Venedig

Ein Versuch über das Schweigen – und das Unterlassen

Gedanken zu Norbert Elias’ Prozess der Zivilisation

 

I Nicht-Schweigen

Es gibt Menschen, die scheinen es unverdrossen darauf abgesehen zu haben, zwischen zwei Fauxpas die kleinstmögliche Distanz einzuhalten. Oftmals sind das Menschen, die in einer spezifischen Sparte Ruhm und Ehre erworben haben, in anderen Lebensbereichen dann aber schmählich scheitern. Die Tragik dabei ist: weil sie in ihrer Paradedisziplin erfolgreich sind, werden sie prominent, was unter anderem zur Folge hat, dass die Medien und das Publikum den Blick auf das ganze Handlungsspektrum der Person ausweiten. Und so werden die Schritte ins Fettnäpfchen von der Öffentlichkeit genussvoll registriert und kommentiert. Kürzlich stand in der NZZ am Sonntag aus der Feder von Henriette Kuhrt die wunderbare Wendung, dass gerade bei Profisportlern häufig eine »unausgewogene Talentverteilung« auszumachen sei. Sie seien besonders anfällig für dieses Phänomen, stehen sie doch – je erfolgreicher und populärer sie sind oder waren, um so mehr – auch nach Beendigung ihrer Karriere weiter im Scheinwerferlicht, aber eben nicht mehr in ihrer Paradedisziplin. Nicht alle schaffen diesen Wechsel pannenfrei. Boris Becker, so Kuhrts Beispiel, strauchelte über einen ihm offenbar zur Verfügung gestellten Diplomatenpass der Republik Zentralafrika, der ihm die Aussicht auf diplomatische Immunität eröffnete. Der Neo-Attaché Becker sagte: »Es ist richtig, dass mein Diplomatenstatus einige Privilegien beinhaltet. Zum Beispiel Immunität bei besonderen Fällen, das muss man prüfen, aber das ist für mich nicht vordergründig wichtig.« (Interview im Top Magazin Frankfurt) Die Öffentlichkeit verband Beckers Hoffnung auf diplomatische Sonderrechte sofort mit einem anstehenden Insolvenzverfahren gegen ihn. Wieso auch soll er von sich aus auf die Immunität hinweisen, ohne an seine finanzielle Notlage zu denken? Oder würde er sie gerne für etwas anderes vorschieben wollen? Wir hoffen nicht. Laut dem Außenminister der Republik war dieser Diplomatenausweis gefälscht. Der Fall ist vor Gericht hängig. Möglicherweise hechtete Bobele vergebens nach dem rettenden Papier. Vielleicht hätte er besser geschwiegen.

Sowieso: Aus der Welt des Sports gab es kürzlich mehrere Beispiele für Talentverschiebung. Der Fußball-Weltmeisterschaft sei Dank. Da sind etwa die zwei türkischstämmigen Spieler der deutschen Nationalelf, die nach einem Treffen mit dem Gebieter über die Türkei auf einem Selfie um die Wette strahlten. Und das wenige Wochen vor Anpfiff des ersten Spiels. Die Wogen der Diskussionen waren kaum mehr zu glätten. Hätten sie sich schlicht auf ihre Profession besonnen, vielleicht wäre Deutschland nicht in der Vorrunde gescheitert. Oder die zwei ursprünglich aus dem Kosovo kommenden Schweizer Fußballer, deren Verhalten im Spiel gegen Serbien für hitzige Debatten sorgten, die medial hyperventiliert nachbearbeitet wurden. Die beiden Kicker hatten sich durch diffamierende Bemerkungen von serbischen Kommentatoren und hämischen nationalistischen Fangesängen der Zuschauer (»Tötet die Albaner« tönte es von den Rängen) provoziert gefühlt. Ihre erste Antwort gaben sie in ihrer Domäne: im Toreschießen. Der anschließende Jubel geriet zur Gegenprovokation, zeigten sie dem serbischen Publikum im Stadion doch den Doppeladler und begaben sich damit auf eine politische Ebene. Die Jubelpose wirkte auf den ersten Blick unbedacht und unprofessionell, es war abzusehen, dass die Atmosphäre vergiftet sein würde, man hätte sich darauf vorbereiten können. Oder wie der russische Eishockeyaner Slawa Bykow, noch ganz geprägt vom Geist des Kalten Krieges (darauf wird zurückzukommen sein), in einem Interview im Tages Anzeiger sagte: »Wir erhielten Schläge, wir wurden provoziert, und alles geschah mit der Absicht, uns aus der Ruhe zu bringen. Ich bleibe mit beiden Füssen auf dem Boden. Der Gegner will gewinnen, mit allen Mitteln, die er hat, und manchmal sind ihm ganz viele Mittel recht ... [Man] muss sich selbst in so einer Situation beherrschen. Du siegst, schüttelst dem Gegner danach die Hand und schaust ihm tief in die Augen. So gewinnst du viel mehr.« Aus dieser Perspektive ist auch nachvollziehbar, dass Bykow den Schweizer Nationaltrainer bewundert, der meint, Fußball habe nichts mit Politik zu tun. Auf den zweiten Blick kann die Adler-Geste vor der serbischen Fankurve auch als couragiert bezeichnet werden oder wie Etrit Hasler in der WoZ schrieb: »Die Nati zeigte den Nazis den Vogel.« Diese Sichtweise geht allerdings nur dann befriedigend auf, wenn hierbei Schein und Sein zusammenträfen. Allerdings sind Zweifel angebracht, sind doch Fußballmannschaften bisher eher selten als Antifa-Gruppen in Aktion getreten. Der Eindruck bleibt, dass die Adlergeste eine emotionale, affektive Reaktion war.

Hätten alle vier Fußballer gemäss der Devise Bykows gehandelt, hätten sie ihre Gesten unterlassen. Wäre auch denkbar gewesen. Verbandsfunktionäre konterten die Aktionen der Fußballer: Nachdem der eine türkischstämmige Spieler sein Selfie partout nicht kommentieren wollte, also geschwiegen hatte, wurde seine Nominierung von einem leitenden Vertreter des deutschen Fußballbundes nachträglich in Frage gestellt. Die Situation eskalierte, als der Spieler seinen Rücktritt aus der Nationalelf erklärte und dabei sagte: »Ich bin nur Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren« (diverse Medien). Aus einem Selfie wurde eine Debatte über Immigration und Integration. Und: da die Diskussion über die Doppeladlergeste nicht abebben wollte, wurde von einem Präsidenten einer kommunalen, liberalen Parlamentsfraktion die Frage nach der Vereinbarkeit von Doppelbürgerschaft und Nationalmannschaft ins Spiel gebracht. Der besagte Politiker ist gleichzeitig Generalsekretär des Schweizerischen Fußballbundes. Verbandsvertreter sind Funktionäre und sollten diplomatisch beschlagen sein. Sind sie aber offenbar nicht.

Hier öffnet sich das Feld.

Denn: Ob die ausgelösten Debatten a) gehaltvoll und b) zwingend nötig sind, ist infrage zu stellen. Was es an allen erwähnten Beteiligten mangelt, ist Souveränität. Diese selbstbewusste, gelassene, uneitle und kontrollierte Haltung würde es zum Beispiel erlauben, eine Handlung im richtigen Moment zu unterlassen oder zu schweigen. Der Hinweis auf den richtigen Moment ist wesentlich. Auch darauf wird zurückzukommen sein. Diese Haltung könnte als Zeichen von Größe verstanden werden. Momentan sind Schweigen und Unterlassen aber gerade keine so beliebten Tätigkeiten.

 

II Schweigen

Wieso eigentlich nicht? Schweigen heißt, nichts sagen. Als gesteigerte Variante ist denkbar, etwas nicht zu sagen, obwohl man es gerne sagen möchte oder – quasi als Superlativ – wir verzichten darauf, etwas herauszuposaunen, obwohl wir es eigentlich unbedingt und unter allen Umständen tun wollten. Aber wir sitzen aufs Maul. Dies gilt auch für das Unterlassen einer Handlung. Wir disziplinieren uns selbst, halten uns und unser Tun in Schach. Wir warten ab, bis sich die Aufregung gelegt hat, und reagieren abgeklärt. Akkurate Dosierung und richtiges Timing sind dabei zentral. Norbert Elias schrieb in den 1940er-Jahren Über den Prozess der Zivilisation. Das Werk gilt heute noch als Klassiker der soziologischen Literatur, auch wenn es die eine oder andere feinere oder gröbere Retusche erfahren hat. Eine zentrale These Elias’ besagt, dass im Prozess der Zivilisation die äußeren Zwänge, verstanden als das Erleben von Herrschaft der Mächtigen, zunehmend durch Mechanismen der inneren Kontrolle abgelöst werden. Immer besser wüssten wir selbst in diesem Prozess, was man tut und was man unterlässt, um das Zusammenleben zu ermöglichen. Das Über-Ich steuert unser Handeln in zunehmendem Maße. Dies macht uns Individuen sicherer und letztlich auch freier, weil wir viel weniger den Folgen tückischer Triebe und ausgelebter Affekte ausgeliefert sind. Im Gegenzug, so Elias, wüchsen Konformitätsdruck und unbewusste soziale Restriktionen. Im Ganzen gesehen werden wir berechenbar und das erleichtert uns, mit der zunehmenden gesellschaftlichen Verflechtung zurecht zu kommen und gar voneinander zu lernen. Wir werden jedoch gleichzeitig unfreier, wenn wir im Augenblick zu reagieren gedenken. Unser Verhalten zivilisiert sich, wenn wir darauf verzichten, unsere Bedürfnisse unmittelbar und sofort befriedigen zu wollen. Wir nicht-handeln im Jetzt mit Blick auf vernünftige, wohlüberlegte Optionen im Morgen. Zivilisierte Menschen handeln in der Regel zunehmend rational und denken psychologisch. »Die Beobachtung der Dinge und Menschen [werden] im Zuge der Zivilisation affektneutraler; auch das ›Weltbild‹ wird allmählich weniger unmittelbar durch die menschlichen Wünsche und Ängste bestimmt, und es orientiert sich stärker an dem, was wir ›Empirie‹ und ›Erfahrung‹ nennen...«, schreibt Elias. Auf überindividueller Ebene korrespondiert dies mit der Berechenbarkeit des Verhaltens von politisch legitimierten Instanzen der Macht. Auch die Machthaber sollten dem Zivilisationsprozess folgen. Wir leben somit in einer Umgebung, in der die Rechtssicherheit, das Vertrauen in die Institutionen und die Absehbarkeit administrativer Handlungen vorausgesetzt werden können. Für Willkür und Willfährigkeit ist in einer zivilisierten Gesellschaft kein Platz.

Klingt alles schön und gut, aber wir wissen, es ist nicht soweit gekommen. Auch Elias war klar, dass eine Menge Stolpersteine auf dem Weg zu einer zivilisierten Gesellschaft liegen, dass immer wieder Rückschläge einzustecken sind, Prozesse global unterschiedlich laufen. Sein Antipode, der Ethnologe Hans Peter Duerr, der nachweisen wollte, dass Elias’ Theorie einem Mythos gleichkommt, hat sie, die Stolpersteine, unter Zuhilfenahme von viel historischem Anschauungsmaterial zu einem beeindruckenden Haufen aufgeschüttet. Keine Frage, die zivilisatorische Entwicklung wurde immer wieder durch triebgesteuerte, affektbeladene, gewaltdurchtränkte Gegenbewegungen gestört und behindert. Keine Frage, schon in vorneuzeitlichen Gesellschaften gab es engmaschige soziale Netze, die die Menschen einer »unerbittlicheren sozialen Kontrolle« (Duerr) unterworfen haben. Keine Frage, Elias nahm vor allem die Erfolgsgeschichte der westeuropäischen Hemisphäre in den Blick, Modernisierungsverdienste in anderen Weltregionen mit Hochkulturen berücksichtigte er kaum. Oder er blendete großzügig den Einfluss der nichtchristlichen Religionen und der Spiritualität für die Entwicklung aus. Duerr wirft Elias vor, sich damit in der Nähe einer Kolonialideologie zu bewegen, stelle er doch die Überlegenheit der westlichen Gesellschaften nicht nur als »eine technisch-militärische, sondern als eine Überlegenheit in der Modellierung der Triebstruktur« dar. Ganz aus dem Gleichgewicht heben, vermochte Duerr Elias’ Gedankengebäude jedoch nicht.

Der Verdacht drängt sich auf, ob jetzt, im Sommer 2018, das Pendel in Richtung Duerrschen Einwürfen ausschlägt. Und man fragt sich, wie dramatisch die Folgen eines solchen Ausschlags ins Unzivilisierte sein könnten. Der Tennis- und die Fußballspieler waren eigentlich harmlose Beispiele. Was schwerer wiegt, ist, dass auf der Bühne der Weltpolitik sich derzeit ein paar Akteure tummeln, die das Schweigen und das Unterlassen nicht zu ihren Kernkompetenzen geschweige denn Kerntugenden zählen und die gerne affekt- und triebgesteuert herumwüten. Wo triebhaftes individuelles Verhalten potenter Politiker institutionelle Desintegrationsprozesse auslösen, kann es prekär werden. Das verursacht bei vernunftgeleiteten Zeitgenossen größere Kopfschmerzen. Einer jener Akteure ist selbstredend – und er redet wirklich gerne über sich selbst – der gegenwärtige amerikanische Präsident. Bei ihm könnte man noch als faule Ausflucht vorbringen, er habe als Immobilienhändler und quasi Quizmaster andere Talente gepflegt als die für Politiker geeigneten, die Verteilung also unausgewogen sein möge –, allerdings scheint er entwicklungs- und beratungsresistent zu sein. Bei anderen Zündlern und bei Vollblutpolitikern, die sich seit jeher in ihrem Spezialgebiet bewegen, müssen wir davon ausgehen, dass die Provokationen bewusst und gezielt gesetzt werden. Die Konsequenzen beginnen sich langsam abzuzeichnen. Ein paar Wortführer feinden ihre politischen Gegner aber auch Minderheiten und Wehrlose mit viel Gehässigkeit und Gefallsucht, Ranküne und Rachegelüste unablässig an. Sie schaffen es nicht, ihr reflexartig ausgelebtes Tastentippen und – dafür gibt’s den treffenden Schweizerdeutschen Begriff – ihr »Hepen« zu unterdrücken und sich etwas zurücknehmen, um eine kleine Boshaftigkeit oder Blödigkeit zu unterlassen, um zu schweigen und vor allem: um nachzudenken. Dieser Geltungsdrang verbreitet schlechte Stimmung und hat schon manches Unheil angerichtet.

 

III Verflechtung und Integration

Elias’ Hauptgedanken, dass durch die gesellschaftliche Verflechtung – heutzutage wird dies Integration genannt – wir zivilisierter werden, rationaler handeln und die Gefühlswelt nach Möglichkeit unter Kontrolle halten, werden unterlaufen. Genau hier setzen die von der Leine gelassenen Vollblutpolitiker an. Man kann ihnen nicht vorwerfen, sie handelten nicht rational, denn sie verfolgen ihr Ziel konsequent: sie wollen (wieder)gewählt werden und die Macht ergreifen beziehungsweise behalten. Diesem Zweck ordnen sie alles unter. Für den Zivilisationsprozess ist das jedoch zu kurz gedacht. Und das wäre dann eben doch irrational. Um die Gunst der Wählerschaft zu gewinnen, wird kräftig nach deren Gefühlshaushalt gegriffen. Wieso wurde das aber so wichtig? Ein holzschnittartiger Erklärungsversuch könnte lauten: Die Phase des Kalten Kriegs kann retrospektiv betrachtet als Inbegriff einer rational bestimmten, langfristig gedachten Epoche (zumindest länger als bis zu den nächsten Wahlen, so es denn welche gab) verstanden werden – sozusagen als Reaktion auf das wilde Wüten im und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine falsche, emotional aus dem Ruder laufende Reaktion eines sowjetischen Generalsekretärs oder eines amerikanischen Präsidenten und das Gleichgewicht des Schreckens wäre aus der Balance geraten, das Boot gekippt und die Welt in Schutt und Asche gelegt worden. Innerhalb der beiden Blöcke wurde derweil kräftig verflochten und integriert. Natürlich wurde auch in jener Phase bewusst mit Gefühlen gespielt, es gab brenzlige Situationen, aber die Regenten versuchten, den Deckel über dem brodelnden Topf – zuweilen war’s ein Dampfkochtopf – zu halten. Eben: die Kontrolle wurde nicht aus der Hand gegeben, die maßgebenden Politiker und deren Politik blieben berechenbar. Seit der Kalte Krieg zu Ende ist, sind (wieder) andere Impulse in den Vordergrund gerückt worden, die das politische Handeln beeinflussen. Es hat sich gezeigt, dass es sich lohnte, den Deckel auf dem Topf nicht immer fest gedrückt zu halten, man schaltete sogar noch eine Heizstufe höher. So überkochte es bisweilen und unschöne Spritzer haben die Umgebung verkleckert. Beispielhaft sei an den Abstimmungskampf von 1992 erinnert (notabene vor dem Social-Media-Zeitalter), als es darum ging, ob die Schweiz den EWR-Vertrag unterzeichnen sollte. Mit einer rationalen Auseinandersetzung, in der vor allem Sachargumente ausgetauscht wurden, hatte das wenig zu tun. Es wurden diffuse Angst- und Heimatgefühle urbar gemacht, es wurde dem Bürger in drastischen Bildern geschildert, was er alles verlöre, stimmte er zu. Niedergaren war nicht in Mode. Symptomatisch auch, dass es der radikalen politischen Rechten viel besser gelingt, sich dieser Taktik zu bedienen. Sich auf die Nation beziehungsweise auf das Vaterland als Identifikationsvehikel zu berufen, ist vergleichsweise einfach. Die politische Linke ist hier im Nachteil, deren Postulate sind komplexer und – überspitzt gesagt – nicht auf eine einzige, griffige Parole zu beschränken. Die politischen Rechtsaußen sind aber auch gezwungen, im Gefühlsfundus zu wühlen, fehlen ihr doch in einigen Debatten die sachlichen Argumente, wie etwa die Beispiele Klimawandel, Konzernverantwortung oder Umweltschutz zeigen.

Stichwort Klimawandel: Die Maßnahmen, die gegen die globale Erwärmung ergriffen werden sollen, können als klassischen Akt eines zivilisatorischen Prozesses verstanden werden. Wolf Lepenies schrieb Anfang 2016 in der Welt, dass die in Paris vereinbarte Klimakonvention zwei Elias’sche Grundbedingungen erfüllen: »Hier werden die zentralen Elemente des zivilisatorischen Prozesses in bisher ungeahnter Weise gesteigert. Dies gilt für das politische Handeln auf lange Sicht ebenso wie für die Selbstdisziplinierung ganzer Nationen.« Zwar schauen wir zweieinhalb Jahre später etwas ratlos und besorgt auf das Vertragswerk und wissen nicht, ob die vorgesehenen Maßnahmen irgendwann einmal greifen werden. Die Zweifler haben freilich keine überzeugenden, geschweige denn rationalen Gründe für ihr Zweifeln, die wissenschaftliche Evidenz ist erdrückend, dennoch gewinnen sie Einfluss auf der Weltbühne. Nicht zufällig gerät dabei einer der zivilisatorischen Motoren, die Wissenschaft, unter die Räder, sobald deren Erkenntnisse nicht mit den Interessen der (oder einzelner) Regierenden und deren Hintermänner übereinstimmen.

Auch die starke integrative Entwicklung in Europa, ebenfalls ein klassischer Fall eines zivilisatorischen Prozesses, steht vor großen Problemen. Brexit, Zank um die Verteilung von Migranten, die Zukunft der europäischen Finanzordnung, die Rolle der Gewaltenteilung in einzelnen Staaten, oder etwas allgemeiner formuliert: Partikularinteressen, politischer Selbsterhaltungstrieb und regionale sowie nationale Empfindlichkeiten erschweren die Zusammenarbeit erheblich. Auch hier wird mit harten Bandagen gekämpft, mit fragwürdigen Argumenten gefochten und nach kurzfristigen Erfolgsaussichten gehandelt. Auch hier wird großzügig in Kauf genommen, mit dem Griff in die Gefühlskiste des Publikums die Kontrolle über die eigentliche Sache zu verlieren und Vorgänge auszulösen, die unabsehbare Folgen zeitigen könnten.

 

IV Grenzen des Schweigens

Stehen wir also auf der Schwelle einer Epoche der Desintegration? Einer Entflechtung? Einer Entzivilisierung? Gar des Zerfalls? Hatte Duerr doch recht? Hierzu zwei Bemerkungen:

Erstens: Über den Prozess der Zivilisation muss geredet werden. Nicht jede Verflechtung bedeutet per se einen Fortschritt. Ärger gibt es überall dort, wo sie sich einseitig ausgebildet hat. Als Beispiel sei hier der Euro erwähnt. Es ist in Fachkreisen unterdessen unbestritten, dass seine Implementierung voreilig erfolgte, da der Grad der Verflechtung unausgegoren war. Politisch-demokratische, fiskalische, finanzpolitische und sicherheitspolitische Perspektiven der europäischen Integration waren noch nicht soweit konkretisiert worden, als dass die idealen Bedingungen für eine Einheitswährung gegeben waren. In einem Interview in der Republik sagt die Politologie-Professorin Ulrike Guérot: »[Wir] sind in einer heillosen Situation gelandet, dass wir einen europäischen Markt und eine europäische Währung haben, aber keine europäische Demokratie. Das ist wie ein Haus, das ohne Dach dasteht und in das es immer hineinregnet. Es wird morsch.« Darunter leidet Europa nach wie vor oder um so mehr. Ein weiteres Beispiel unausgewogener Entwicklung: Kapital. Geldströme fließen praktisch ohne Hindernisse durch globale Kanäle. Ein Instrument für internationale Transfer- oder Ausgleichleistungen ist inexistent. So kann eine kalifornische Hightechfirma ihre Einnahmen dorthin verlagern, wo sie für den Gewinn von umgerechnet 19 Milliarden Euro 18 Millionen Euro an Steuern abliefern muss, dank einem Deal mit Irland (Quelle: Süddeutsche Zeitung). Die Steuerlast bewegt sich im Promillebereich und ist grotesk. Die sogenannte Steuervermeidungsindustrie floriert prächtig und funktioniert streng nach nationalen oder gar regionalen Vorgaben. Und wieder sorgen Fußballer für die entsprechende Fußnote: Die drei zurzeit höchstgehandelten Kicker wurden wegen Steuerhinterziehung verurteilt, ihre Berater waren vermutlich bei der Auswahl der Off-Shore-Gesellschaften nicht so geschickt.

Über die Verflechtung darf nicht geschwiegen werden, aber das Kind soll nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden, was ja gerade die Populisten so gerne und wortreich tun. Nicht die Integration an sich ist rückgängig zu machen, sondern die Art und Weise ist zu prüfen, sie müsste gleichmäßiger und demokratisch legitim abgesichert sein. Zugegeben: das ist keine leichte Aufgabe. Wollen wir den Zivilisationsprozess nicht absterben lassen, ist aber dichtere Verflechtung gefragt und nicht Abschottung. So plädiert zum Beispiel der Autor Robert Menasse seit Längerem – kürzlich wieder in einem Interview in der NZZ am Sonntag – für mehr und bessere Integration, denn das größte Hindernis im holprigen Zivilisationsprozesses sei der Nationalismus.

Zweitens: Müssen wir uns an die 1930er-Jahre zurückerinnern? Der israelische Historiker Zeev Sternhell sagte 2014 in einem Spiegel-Interview bezüglich der Erfolge von rechts-populistischen Parteien sich auf ein Zitat von Heraklit beziehend: »Die Gegenaufklärung mit ihren nationalistischen und faschistischen Sprösslingen ist auf dem Vormarsch. Kündigt der Zwist um die zukünftige Gestaltung der EU, der derzeit an Schärfe gewinnt, eine Umkehr in der Geschichte der Nachkriegszeit an? Nun, man steigt nie zweimal in dasselbe Wasser des Flusses.« Zurückerinnern ja, aber mit Bedacht. Der Publizist Edward Luce grübelte kürzlich in der Financial Times in einer Tour d’Horizon in ähnlicher Weise über die Risiken, vor denen die westlichen Demokratien stünden (die erweiterte Form liegt als Buch vor: Edward Luce: The Retreat of Western Liberalism). Das politische Drehbuch erinnere ihn ansatzweise an jenes der 1930er-Jahre, schreibt er, betont aber auch ausdrücklich, dass substanzielle Differenzen zwischen den 1930er- und den 2010er-Jahren bestehen, eben: man steigt nie in dasselbe Wasser, der Fluss fließt. Gleichwohl: Der US-Präsident spielt das Spiel der Destabilisierung und unterstellt etwa Deutschland, wohlgemerkt einer der wichtigsten Alliierten, eine schwache Regierung, zu dürftige Militärausgaben sowie eine zu starke Exportwirtschaft zu haben und lässt nebenbei Bewunderung für »illiberale« Politiker vom Schlage Putins oder Orbans durchscheinen; ein AfD-Bundessprecher frotzelt, dass der letzte deutsche Regierungschef vor der jetzigen Kanzlerin, dem es gelungen sei, »den amerikanischen und den russischen Präsidenten zum Feind zu machen, ... [war]« (Redemanuskript); von Berlin (oder eher München) über Wien bis Rom wurde von rechtsnationalen Politikern an einer Achse der Willigen zur Abwehr von Migranten gebastelt – allerdings ist diese Achse äußerst brüchig, wenn sich Nationalisten international verbrüdern, wird’s intellektuell ohnehin abenteuerlich; der italienische Innenminister möchte gerne ein Register über die Roma anlegen und denkt darüber nach, ob einem seiner wichtigsten Kritiker der Polizeischutz entzogen werden solle. Solche Äußerungen haben eigentlich nur eine Botschaft: »Leute, habt keine Angst, enthemmt Euch, lasst es krachen.« Wir steigen also in anderes Wasser, aber es ist nach wie vor saukalt. Wenn man denn wollte, dass der Zivilisationsprozess voranschreite, wäre es besser gewesen, die genannten Akteure hätten geschwiegen. Vielleicht wollen das nicht alle. Und: der Umkehrschluss ist zulässig. Der Kontrollverlust der Protagonisten gefährdet die Berechenbarkeit der Politik. Ist der Prozess also gefährdet? Was alle Beispiele belegen, ist, dass das Pendel des zivilisatorischen Prozesses beängstigend weit in die Gegenrichtung ausschlägt, so man sein Urteil auf die auf individueller Ebene abgegebenen Aussagen abstellen will.

Die Dynamik, die willentlich in Gang gesetzt wurde, lässt bei Unterstützern des Zivilisationsprozesses keine gute Laune aufkommen. Luce meint denn auch, es sei schwierig zu beurteilen, ob die Gegenbewegung schon genug Fahrt aufgenommen hat, um die Integration rückgängig zu machen. Und er zitiert den deutsch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Rudi Dornbusch: »In economics, things take longer to happen than you think they will, and then they happen faster than you thought they could.« Nach dem Spruch über das Schütteln der Hände des Gegners und dem Tief-in-die-Augen-Schauen  lässt Bykow den Satz folgen: »Aber jetzt ist eine Lawine losgetreten worden.« Dass hier ein Wirtschaftswissenschaftler und ein Sportler zitiert werden, mag kein Zufall sein. Sie sehen die Welt vielleicht grundsätzlich etwas anders als Anhänger der Integration. Ihr Bild ist vielleicht (unbewusst) geprägt von der Theorie des »Politischen Realismus«, die auf Hans Morgenthau zurückgeht. Verkürzt gesagt versteht Morgenthau das politische Weltgeschehen als ein ständiges Ringen um Macht und Kontrolle einzelner Akteure. Jeder dieser politischen Akteure, seien das Individuen oder Regierungen oder Nationen oder übernationale Organisationen, steht in einem ewigen Konkurrenzkampf mit anderen Akteuren. Jeder versucht, den für ihn optimalen Nutzen herauszuschlagen. Es gilt, den anderen immer einen Schritt voraus zu sein und das Tempo zu bestimmen. Harmonisches Handeln ist Augenwischerei und verkennt die Realitäten. Man muss den politischen Gegner bekämpfen und nicht ihn in sinnlosen Diskussionen zu überzeugen versuchen. Runde Tische klingen gut, aber die massgebenden Entscheidungen werden in kleinen Zirkeln unter Seinesgleichen getroffen. Aus dieser Perspektive erscheint auch Integration und Verflechtung in einem anderen Licht. Plötzlich scheint es nicht mehr so wichtig zu sein, den anderen mit sachlichen Fakten zu bezirzen, sondern mit – je nach Bedarf – sachlichen und/oder unsachlichen, mit fachlichen und/oder emotionalen Argumenten in die Knie zu zwingen. So gesehen ist es ihnen auch wurscht, ob dabei integriert wird oder nicht, ob zivilisiert wird oder nicht. Alles was zählt, ist der Sieg. Das Duell der beiden Alphatiere Bodenmann gegen Blocher könnte als Beispiel aus den 1990er Jahren herangezogen werden.

Wer es jedoch mit der Zivilisierung hält, der findet es geboten, mehr inne zu halten, das Ventil des Dampfkochtopfs zwar ein wenig zu öffnen, aber nicht den Deckel ganz wegzunehmen. Das Bedürfnis zu schweigen ist zurzeit allerdings am Schwinden. Die Souveränität – wenn sie jemals vorhanden war – ist manchen einflussreichen Personen abhandengekommen. Das zentrale Organ des Prozesses der Zivilisation, das Über-Ich, schwächelt. Und in schon fast nostalgischer Art bewundert man die deutsche Bundeskanzlerin für ihren Langmut und die Fähigkeit, zu schweigen und zu unterlassen...

Halt! Kaum ist dieser Gedanke gefasst, folgt das große Aber. In der Bundeskanzlerin zeigt sich die Ambivalenz – oder ist es schon eine Dialektik? – von Schweigen und Unterlassen. Auch Nicht-Tun und Nicht-Sagen lösen Handlungen aus beziehungsweise unterstützen bereits laufende, unerwünschte Entwicklungen, die den Prozess hemmen. Constantin Seibt schreibt in der Republik über die Unterlassungen unter dem Stichwort: »Was Merkel nicht sagt. Und nicht tat.« Unter anderem etwa, dass die Nachbarn in einer Währungszone Transferzahlungen brauchten oder »das Sparen plus Export kein Patentrezept für eine funktionierende Weltwirtschaft« sei oder dass Schuldnerstaaten keine Austerität sondern einen »Marschallplan« benötigten. Unter dem Deckmantel der Diskretion geschehen Dinge, die eine Mehrheit nicht wollen sollte und die demokratisch lausig legitimiert sind. Hier zeigen sich die Schwächen des Schweigens.

 

V Schluss

Fazit: Wo es um den Drang geht, sich unflätig und provokativ zu äußern und damit Diskussionen ausgelöst werden, die nicht dringend geführt werden müssen, darf durchaus auch mal geschwiegen werden. Aktivistische Handlungen, gemeinhin operative Hektik genannt, sind meist überflüssig und zu unterlassen. Kurzfristig befriedigte Profilneurosen und Egomanie sind eigentlich Zeichen der Schwäche und des Rückschritts und sollten keinen Platz in der Politik finden. Bemühen wir das altehrwürdige und schöne Wort: Bewahren wir Contenance. Üben wir uns wieder vermehrt in Selbstkontrolle, Unaufgeregtheit und Nachdenken. Denn man würde gerne glauben, diese Haltung nähre sich von der Überzeugung, dass der zivilisatorische Prozess voranschreiten solle und mit ihm das Projekt der Aufklärung. Erheben wir dann die Stimme und formulieren dann und erst dann unseren Widerspruch, wenn dieser Prozess gefährdet ist. Klar, nicht jeder ist gleicher Meinung, wo und wann dies der Fall ist. Und ob überhaupt. Dennoch.